Tod zwischen Büchern

Weiß! und leer. Das unerhört laute Ticken seiner alten Wanduhr im Hintergrund. Und dann wieder weiß und leer -  so  flimmerte der Bildschirm seines Notebooks vor ihm.  Auf nichts anderes konnte er sich im Moment konzentrieren. Nur er und sein Bildschirm. Das Weiß brannte sich in seine Augen und setzte seinen Weg durch zahlreiche Hirnwindungen fort, bis auch dort alles nur noch weiß war. Ihm musste etwas einfallen, nur was?

Thomas stand abrupt auf und dachte über die letzte Zeit nach. Es lief allgemein nicht gut. Freundin – nicht vorhanden, Finanzen – am Boden, Alkohol – eindeutig zu viel, und jetzt noch eine Schreibblockade.

Vor etwa zwei Jahren hatte er seinen letzten Roman herausgebracht. Er war Krimiautor. Nicht vergleichbar mit Christie, Highsmith, Mankell oder anderen Koryphäen. Nein, er war mehr für die kleinen Kriminalfälle zuständig. Seine Krimis spielten in Karlsruhe, seiner Heimatstadt, und es ging nicht um große Morde und Schwerverbrechen. Nein, kleinkriminelle Delikte waren eher sein Metier. Seine Bücher lebten vom Lokalkolorit, nicht von einer aberwitzigen oder brutalen Story oder ausgefallenen Charakteren. Nun hatte sein Verlag mit einer gewissen Bestimmtheit nach mehr gefragt. Das Mehr bezog sich dabei auf die Schwere der geschilderten Verbrechen. „Mord“ lautete die Forderung! Dieses Mehr sollte dafür sorgen, dass wieder mehr Menschen seine Bücher lasen. Besonders Armin, sein Lektor, setzte sich mit einer ungeheuren Vehemenz dafür ein.

Natürlich hatte er zugestimmt, was sollte er auch tun? Seine Bücher selbst verlegen? Ganz gewiss nicht.

Aber diese energische Forderung hatte bisher nur eins bewirkt: Er saß hier und hatte seine erste Schreibblockade. Bisher waren ihm seine Romane sehr leicht von der Hand gegangen - und nun war Weiß die vorherrschende Farbe - sowohl auf dem Bildschirm, als auch in seinen Gedanken. Blutrot wäre passender gewesen.

Es musste etwas passieren, etwas Besonderes, etwas, das ihm eine Idee für seinen neuen Fall gab. Er musste mit Plan vorgehen. Ähnlich waren auch die Worte seines Lektors heute Mittag am Telefon gewesen.

Also, erst Kühlschrank plündern, dann in die Bibliothek, abends Ausgehen. Allein und in Gestalt des einsamen Poeten, traurig, einsam und vor allem Schwarz - weit weg von allem Weiß. An der Bar sitzend, einen Whiskey oder anderes Getränk zur Hand, fiel ihm sicher etwas ein. Sollte all das nicht fruchten, dann ging es am Montag zu zwei Kommissaren, die er kannte und die ihm schon oft geholfen hatten.

Darauf genehmigte er sich erstmal ein Glas Wein und beruhigte sich am tiefen Rot des Getränks.

 

Tiefes Rot. Blutrot? Es blendete ihn. Das Rot verformte sich und wurde langsam klarer. Es handelte sich offensichtlich um Ziffern. „13:23“ blinkte es etwas zudringlich vor seinen Augen. Sein Funkwecker.

Er lag in seinem Bett. Wie war er dort hingekommen, was war gestern geschehen? Es war viel Alkohol im Spiel. Wie um diesen Fakt zu bestätigen, meldete sich augenblicklich ein dumpfer Schmerz in seinem Kopf. Unter unglaublicher Anstrengung quälte er sich aus dem Bett und schlich in die Küche. Dort trank er den Rest Orangensaft und musste sich im Anschluss fast übergeben. Als er mit aufgestütztem Kopf am Küchentisch saß, setzten langsam die Erinnerungen ein.

Nach der Kühlschrankplünderung ging er in die Bibliothek. Er liebte es, allein durch die dunklen, langen Gänge des Gebäudes zu streunen. Oft setzte er sich an irgendeinen versteckten Ort und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Manchmal kam ihm eine zündende Idee. Gestern nicht.

Dann geschah aber etwas Besonderes. Am Ausgang fiel ihm sofort die junge, hübsche Bibliotheksangestellte auf. Und er ihr offensichtlich auch. Sie kamen schnell ins Gespräch und sie hatte Feierabend. Also gingen sie zusammen einen Kaffee trinken. Daraus wurde ein Sekt, später Wein, dann ein paar Kurze. Die Gespräche mit ihr, Daniela, glitten von gezwungener, pseudointellektueller Konversation zu immer alberneren Späßchen ab und sie verstanden sich besser und besser. Da der Abend noch jung war, wurde beiden schnell klar, dass man noch dahin müsse, wo getanzt wurde.

Aufgrund seines gestrigen Faibles für Schwarz ging es in einen Gothic-Laden. Schwarze Gestalten, Lack und Leder, stampfende Musik. Er konnte sich nur vage an einzelne Szenen erinnern. Das Zahlen des Eintritts, dann mehrere Schnäpse und er hatte den halben Tresen eingeladen. Die Tanzfläche, er mittendrin, mehr stolpernd als tanzend. Armin, sein Lektor, war da. Sie hatten irgendwann gestritten. Mit Daniela hatte er sich weiter gut verstanden.

Weitere Rekonstruktionsversuche, vor allem seines Nachhausewegs, blieben erfolglos. Keine Chance. Offensichtlich hatte er sich gestern dermaßen zugrunde gerichtet, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte.

Er hasste es! Dennoch gab es Zeiten, in denen das öfter passierte.

 

Am Montag ging es ihm wieder besser. Nachdem er den furchtbaren Sonntag deprimiert und mit einem schlechten Gewissen verbracht hatte, war er nun voller Tatendrang. Eine Frauenleiche war aus dem Rhein gefischt worden und Kneissler und Holzwarth, seine beiden „Freunde“ bei der Polizei, hatten den Fall übernommen. Wenn das nicht die nötige Inspiration brachte, was dann?

Während er mit seinem klapprigen Fiesta, Baujahr 1986, Richtung Pfalz und damit Richtung Rheinbrücke auf der B10 unterwegs war, klingelte sein Handy. Armin – ob er wieder nüchtern sei und sich beruhigt hätte? Sein Lektor teilte ihm sachlich seine Überzeugung mit, dass dieser Fall die Schreibblockade lösen würde. Fast augenzwinkernd fügte er hinzu, dass Thomas ihm wirklich dankbar sein könne.

Am Rheinufer angekommen, erzählte ihm „sein“ Kommissaren-gespann von dem Fall.

Eine junge Frau, um die 30, war in der Nacht vom Samstag mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden. Danach war sie in den Rhein geworfen worden. Die genaue Todesursache und die Identität der Frau waren noch nicht geklärt. Ergebnisse wurden heute Abend erwartet.

Während die beiden Polizisten die Situation schilderten, wurde die Leiche geborgen und auf eine Bahre gepackt. Interessiert schaute er genauer hin – und wurde mit einem gewaltigen Schrecken belohnt. Bei der jungen Frau handelte es sich um Daniela.

So gut wie möglich versuchte er seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Was hatte das zu bedeuten, wieso hatte es ausgerechnet sie getroffen? Ihm wurde schlecht, als ihm die ganze Tragweite seiner Entdeckung bewusst wurde. Hatte er die junge Frau vielleicht als letzter lebend gesehen? Er musste unbedingt herausfinden, was an diesem wilden Samstagabend stattgefunden hatte. Und was hatte Armin damit gemeint: Er könne ihm dankbar sein!?

Den Kopf voller Gedanken, fuhr er zurück. Zuerst wollte er sich mit Armin unterhalten. Dann fragte er sich aber, was wäre, wenn der wirklich etwas mit dem Fall zu tun hatte? Er konnte mit hineingezogen werden oder, noch schlimmer, zum nächsten Opfer werden. Aber konnte Armin so verrückt sein, ihm durch Mord über seine Schreibblockade helfen zu wollen? Um ehrlich zu sein: er konnte diese Frage nicht mit einem klaren Nein beantworten.

Also änderte er seinen Plan und fuhr direkt zur Disco vom Samstag – vielleicht konnten die ihm was erzählen.

Tatsächlich traf Thomas dort jemanden an und bekam von ihm die Telefonnummern der Angestellten, die am Samstag gearbeitet hatten.

Zunächst rief er aber Kneissler auf seinem Handy an. Tatsächlich gab es Neuigkeiten. Zeugen berichteten von einem roten BMW Cabrio, das am Sonntag in den frühen Morgenstunden an der Rheinbrücke gesehen worden war. Nach einer Suchaktion wurden Stofffetzen der Kleidung der Toten am Geländer der Brücke entdeckt. Es war also offensichtlich, dass das Mädchen von der Brücke geworfen wurde, und der Fahrer des BMW wusste vielleicht etwas mehr darüber.

Armin fuhr einen roten 3er BMW Cabrio!

Ein weiterer Zeuge wusste von einem betrunkenen Pärchen zu berichten, das sich sehr laut unterhalten hatte. Das war am Ortseingang Maximiliansau gewesen, unmittelbar neben der Rheinbrücke.

Die Todesursache war Ertrinken gewesen, der Schlag hatte sie nur betäubt. Damit ließ sich auch der Todeszeitpunkt exakt feststellen, denn das Opfer trug eine nicht wasserdichte Uhr.

Die Telefonate mit den Angestellten der Disco ergaben, dass er, wie erwartet, sehr betrunken gewesen sein musste. Er hatte sich zunächst wohl ganz gut mit seiner Begleitung unterhalten, dann war er aber nach einem Telefonanruf etwas ungehaltener geworden. Später sei ein Bekannter erschienen, es handelte sich dabei offensichtlich um Armin. Nach lauter Diskussion seien sie dann zu dritt gegangen, wobei der Lektor Daniela Avancen gemacht habe. Ein Parkplatzwächter konnte sich erinnern, dass sie zusammen mit einem roten BMW gefahren seien. Es müsse etwa vier Uhr gewesen sein.

Dank dieser Informationen konnte er sich jetzt auch wieder etwas genauer erinnern. Richtig, Armin war nach einem kurzen Telefonat erschienen und hatte ihn beschworen alles gegen seine Schreibblockade zu tun. Für den Erfolg müsse man auch ungewöhnliche Wege gehen. Vielleicht könne er ihm ja auch helfen. Darüber waren sie in Streit geraten, der eskalierte, als Armin sich an Daniela ranmachte.

Für Thomas lag der Fall jetzt klar auf der Hand. Sein Lektor hatte für „Inspiration“ sorgen wollen, und Daniela passte als Opfer in sein Konzept.

Aber was sollte er jetzt tun? Es war doch klar, dass sie ihm auf die Schliche kommen würden. Er konnte mit ihm reden, ihn warnen. Er konnte ihn anzeigen, oder er wartete einfach ab.

Er warf sich auf sein Bett und fing hemmungslos zu weinen an. Alles brach über ihn herein. Die Angst vor der Schreibblockade, seine Probleme mit dem Alkohol, jetzt die Verwicklung in einen Mordfall und nicht zuletzt: Am Sonntag hatte er noch geglaubt, endlich wieder jemanden gefunden zu haben, den man lieben konnte. Jetzt war alles zunichte gemacht. Er würde nie wieder schreiben und nie wieder lieben. Beim Trinken war er sich nicht so sicher.

 

Es klingelte an seiner Tür. Mit verweinten Augen öffnete er. Kneissler und Holzwarth standen ihm gegenüber.

„Herr Zänker?“

„Äh ja, das seht ihr doch! Und warum so förmlich? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?“

„Herr Zänker, genau darum geht es. Sie stehen unter dringendem Tatverdacht. Eine Zusammenarbeit kann daher nicht mehr stattfinden.“

Thomas wurde übel. „Ich hätte früher zu ihnen kommen müssen. Aber ich weiß wer der wahre Täter ist. Mein Lektor, Armin Mollring.“

„Herr Mollring wurde bereits vernommen und er hat ein wasserdichtes Alibi. Er war zur Tatzeit auf einer Polizeiwache, da er wegen Trunkenheit im Straßenverkehr festgenommen wurde. Herr Mollring sagte aus, dass er sie und das Opfer nach Maximiliansau fahren sollte, dem Wohnort der Frau. Kurz vor der Rheinbrücke ließen sie sich absetzen, um den Rest zu laufen.“

Erneut schossen Thomas Tränen in die Augen. Das konnte nicht wahr sein – oder doch? Er konnte sich vage an die Rheinbrücke erinnern, er konnte sich auch an einen Streit erinnern.

„Herr Zänker, am unteren Teil des Geländers der Brücke wurden Blut und Kopfhaare des Opfers gefunden. Das lässt auf einen Sturz schließen, der sie betäubte. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl und würden uns gerne ein wenig umsehen.“

Seine Kleider vom Samstag lagen ungewaschen auf seinem Sessel. Sogar von der Tür aus konnte er den roten Fleck am rechten Ärmel sehen. Die Erinnerung brach über ihn herein: Leidenschaftliche Küsse, ein Streit um Nichts, ein Stolpern, ein Sturz, das furchtbare Geräusch, als ihr Kopf am Brückengeländer anschlug. Er dachte sie sei tot - trug er Schuld? Die Leiche muss verschwinden!

Die Welt um ihn brach zusammen. Kein Weiß mehr, es wurde Schwarz. Im Fallen wurde ihm klar: Er würde jetzt viel Zeit haben, seine Geschichte zu schreiben. Und sie alle würden mehr bekommen. Mord und Tragik – beruhend auf einer wahren Begebenheit.

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