Mutmaßungen

Ich hing gerade ein bisschen herum, als mich das laute Geräusch eines zuklappenden Kofferraumdeckels aus dem Dämmerschlaf weckte. Noch müde schaute ich auf die Straße und sah einen großen Kerl, der an einem alten Kombi stand. Er trug Gummistiefel, eine grüne Latzhose und eine abgetragene, braune Cordweste mit einem Innenfutter aus Schaffellimitat. Als hätte er etwas zu verbergen, schaute er sich in alle Richtungen um, wirkte dann erleichtert und ging langsam zur Fahrertür. Plötzlich hielt er inne, irgendetwas schien er gehört zu haben. Mir stockte der Atem und ich hätte mich am liebsten unsichtbar gemacht. Mit durchdringenden Augen schaute der Mann direkt in meine Richtung. Ich bin sowieso etwas ängstlich, aber dieser Blick schien in mein Innerstes zu dringen und brachte mich völlig aus der Fassung.
Doch anscheinend hatte er mich nicht entdeckt. Der unheimliche Kerl suchte nun kurz die Umgebung ab. Schließlich schien er beruhigt und öffnete mit einem Achselzucken die Autotür. Er stieg ein und fuhr mit quietschendem Keilriemen davon.
Diese Begebenheit brachte mich ins Grübeln. Ich kenne sonst jeden, der unsere kleine Straße benutzt. Es kommen nicht viele Fremde und wenn, dann sind sie meist in Begleitung von mir bekannten Gesichtern, oder sie besuchen Nachbarn, die ich kenne. Seit ich mich erinnern kann, war das der erste Fremde und er hatte ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt. Ich beschloss aufmerksam und hellwach zu sein.

So entging mir auch nicht das Eintreffen eines älteren Herrn, der unsicher mit seinem Fahrrad die Straße entlang fuhr. Es war mein Nachbar, vor dessen Besitz der Kerl mit dem Kombi geparkt hatte. Nicht lange, nachdem er wacklig vom Rad gestiegen war, kam der Rentner aufgebracht wieder und zeterte vor sich hin:"Alles gestohlen, alles weg! Verdammt, wer war das? Ich muss umgehend die Polizei informieren." Laut fluchend radelte er in kleinen Schlangenlinien davon.
Ich zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluss, dass der unsympathische Kombifahrer mit großer Wahrscheinlichkeit der Dieb war. Und ich war der einzige Zeuge. Was, wenn er mich doch gesehen hatte? Was, wenn er wieder zurück kam? Hoffentlich konnten sie ihn schnell fassen. Er hatte nicht so ausgesehen, als hätte er Skrupel auch andere Verbrechen zu begehen. Wenn er nun zurück kam, musste ich das Schlimmste für mich befürchten. Es musste schnell etwas geschehen!

Der Polizeiwagen stand jetzt schon eine ganze Weile auf der anderen Straßenseite. Lange hatten sich die Beamten mit meinem Nachbarn unterhalten und auch bei mir waren sie schon gewesen. Sie hatten sich alles intensiv angesehen und machten einen wirklich sehr aufmerksamen Eindruck. Die Sache mit dem Kombi hatte sie nicht sonderlich überrascht. Den hatten wohl einige Anwohner bemerkt, gerade der Keilriemen sorgte durch sein weithin hörbares Quietschen für einen hohen Wiedererkennungswert.
Nach dem Besuch der beiden Herren von der Polizei war ich doch etwas beruhigter. Die Staatsgewalt würde ihre Aufgabe gewiss schnell und sicher erledigen. Die Gefahr für mich, wenn denn überhaupt je eine bestanden hatte, war so gut wie gebannt. Mit einem Gefühl der Sicherheit gab ich mich dem Müßiggang hin und versuchte, meine ängstlichen Gedanken zu verdrängen.
Doch als ich wenig später einschlief, träumte ich schlecht. Ich träumte von riesigen Männern, die mir schlimme Dinge antun wollten. Ich träumte von alten, klappernden Kombis, die mit quietschendem Keilriemen auf mich zurasten. Ein Mann, der mich mit beiden Händen, ja Pranken, fasste und schüttelte, der mich mit breitem Grinsen ansah, sodass mir übel wurde und ich wirklich auf alles gefasst war. Dann wieder das grauenhafte Quietschen des Keilriemens.
Doch diesmal wurde ich wach. Diesmal war es kein Traum. Das Geräusch war echt gewesen. Es dämmerte bereits und es war niemand mehr auf der Straße. Niemand bis auf einen Mann, der gerade aus einem Kombi ausstieg. Es waren der Mann und der Kombi, die ich bereits letztes Mal gesehen hatte. Der Mann in der grünen Latzhose, der mir gerade in meinem Albtraum erschienen war.
Ich bekam Angst. Eine Angst, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Und der Mann blickte direkt zu mir und lief dann in meine Richtung. Sein Lächeln war wie das in meinem Traum. Auch hier schien der Kerl zu allem bereit. Erstarrt konnte ich mich nicht rühren.
Ich sah ihn nur an. Dann hörte ich seine Schritte, merkte, wie er jetzt ganz nah kam. Dann sah ich ihn wieder und stellte fest, dass er viel größer war als ich. Selbst wenn ich mich hätte bewegen können, ich hätte keine Chance gehabt. Dann hob er seine groben, großen Hände und mit einem widerlichen Grinsen ergriff er mich und zwang mich zu Boden. Doch plötzlich konnte ich mich bewegen und versuchte mich gleich geschickt fortzurollen. Doch vergebens, er war zu schnell und erwischte mich, ehe ich in einer Position war, die mir ein Entkommen ermöglicht hätte.
Während ich nun erschöpft war und meine Haut einige braunblaue Flecken aufwies, schien mein Gegner nicht einmal außer Atem. Wortlos sah ich meinem Schicksal entgegen. Der Mann schleppte mich zu seinem Auto und warf mich dann achtlos, wie ein Stück Fleisch, in den Kofferraum.
Ich fühlte mich regelrecht matschig, einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen und so nahm ich kaum wahr, wie sich der Wagen in Bewegung setzte. Wir mussten bereits eine Weile gefahren sein, als ich mir endlich klar machte, dass etwas geschehen musste, wenn mir nicht etwas Schreckliches widerfahren sollte.
Nur was? Ich versuchte verzweifelt auf die zündende Idee zu kommen: Eine Flucht traute ich mir nicht zu, ich hatte die Überlegenheit des Mannes zu spüren bekommen; ihn anzugreifen kam aus den gleichen Gründen natürlich nicht in Frage; daher blieb nur noch die Möglichkeit, um Hilfe zu rufen. Ich musste also auf mich aufmerksam machen, ohne dass mein Entführer etwas davon mitbekam. Ich sah mich im Kofferraum um, vielleicht entdeckte ich etwas Brauchbares. Und tatsächlich, eine Kiste mit Walnüssen lag direkt hinter mir. Und zu meiner Freude entdeckte ich, dass der Deckel des Kofferraums nicht richtig schloss und nur mit einem Strick zugebunden war, sodass ein kleiner Spalt offen blieb. Vielleicht gelang es mir, mit den Walnüssen eine Spur zu legen. Eine Spur, die dann von der Polizei bemerkt und verfolgt werden würde. Es war bestimmt nicht der beste Plan, kein Plan, der todsicher funktionierte. Aber es war ein Plan. Und es war ein Plan, der funktionieren konnte. Zum ersten Mal schöpfte ich wieder etwas Hoffnung, doch noch heil aus dieser Sache herauszukommen. Voller Elan wollte ich mit der Umsetzung beginnen, doch genau in diesem Augenblick bremste der Fahrer ab und brachte das Auto zum Stehen. Vielleicht eine Ampel? Als ich den Mann am Kofferraum hörte und sah, wie er den Strick löste, schwand meine, gerade neu aufgekeimte, Hoffnung dahin. Mein Plan war gescheitert, bevor ich überhaupt mit seiner Ausführung beginnen konnte.

Ruppig wurde ich in ein Haus geschleppt. Dort legte mich der Kerl auf einen Holztisch und, ich weiß nicht, was er mit mir gemacht hatte, aber ich konnte mich nicht mehr rühren. Nun fiel mir auch kein neuer Plan ein. Hatte ich vor wenigen Minuten noch gedacht, ich könne es schaffen, war jetzt alles dahin. Ich hatte mit meinem Dasein abgeschlossen. Nur ein Wunder konnte mich jetzt noch retten
Der Typ verschwand kurz, nur, um mit einem riesigen Messer wieder zu erscheinen. Was hatte er vor? Als er mit einem vergnügten Grinsen die Klinge an meine Haut ansetzte, wusste ich, was ich lieber nie gewusst hätte. Schon der erste Schnitt verursachte mir Höllenqualen, doch mein Peiniger setzte nicht mehr ab, er schälte meine Haut, als ob er das schon tausende Male getan hätte. Mir schwanden die Sinne, mein letztes Stündlein hatte geschlagen. Das letzte, was ich mitbekam, war ein kleines Kind, das lachend den Raum betrat. Dann wurde es schwarz und alles war vorbei.

"Papi, Papi. Du bist ja wieder da!" rief der kleine Junge entzückt aus. Der große Mann in der grünen Latzhose, der an einem Küchentisch saß, drehte sich mit einem breiten Grinsen um: "Ja, Lutz, ich bin wieder da und ich hab dir was ganz Feines mitgebracht." Mit einem Schnitt seines großen Messers vollendete er seine Tätigkeit: "Den hab ich vom Grundstück des alten Gerig. Ich hab ihn gerade frisch geschält." Mit glänzenden Augen bedankte sich der Junge:“Danke, das ist aber ein schöner Apfel!" Herzhaft biss er hinein.

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